Wiener Studie simuliert Super-Gau in Tihange

Kölnische Rundschau 04.05.11

Expertin errechnet mögliche Bodenbelastung – Hellenthal
und Monschau lange unbewohnbar?

CLAUDIA SCHWEDA
KREIS EUSKIRCHEN. Das in einer Studie der Universität für Bodenkultur in Wien grafisch dargestellte Szenario eines Super-GAUs im belgischen Kernkraftwerk Tihange macht schlicht Angst. Aachen, Monschau, Simmerath und Hellenthal liegen sogar innerhalb eines Radius’, der langfristig für unbewohnbar erklärt werden müsste. Diese Einschätzung beruht auf extremen Annahmen. Zudem wird nur der Grad der radioaktiven Verseuchung des Bodens angegeben – die Bodenkontamination.
Welche Gefahr davon für Menschen ausgeht, zeigt diese Grafik nicht.
Die Studie ist Ende der 1990er Jahre im Auftrag von Greenpeace Belgien erstellt worden. An den Voraussetzungen hat sich seitdem nichts geändert. Weiterhin arbeiten drei Reaktoren in Tihange, rund 80 Kilometer von Hellenthal entfernt. Einer ist seit 1975 am Netz, einer seit 1983 und einer seit 1985.
Die Studie spielt nach Angaben der Autorin Petra Seibert ein simples Szenario durch: die Belastung des Bodens nach einem plötzlichen und unkontrollierbaren Austritt von 50 Prozent des Caesium 137 aus einem der drei Tihange-Reaktoren. “Das ist mit das Ärgste, was man sich vorstellen kann”, sagt Meteorologin Seibert.

Ein Tag ohne Wind, aber mit Regen. Durchgespielt wird der 29. April 1995. Ein Tag, an dem der Wind in Aachen laut Deutschem Wetterdienst mit 1,3 Beaufort – definitionsgemäß ein kaum merklicher, “leiser Zug” – aus üblicher, nordwestlicher Richtung kam. Die Niederschlagsmenge lag bei 9,1 Liter pro Quadratmeter. Zusammengefasst bedeutet das: Die
Beispielsituation geht davon aus, dass eine radioaktive Wolke fast komplett in der Region verharrt – weil der Wind fehlt. Zudem gelangt das, was in der Luft ist, durch den Regen sofort in den Boden. Für die Eifel also ein “worst case”-Szenario.

Die Folie der Maßnahmen, die Seibert darübergelegt hat, ist angelehnt an die Handlungsfolie der russischen Regierung nach dem Unglück in Tschernobyl. “Direkt nach dem Unglück”, sagt Seibert, “war eine Bodenkontamination von 50 bis 185 Kilobequerel pro Quadratmeter ein typischer Wert in Mitteleuropa.” Das sei keine Katastrophe gewesen. Aber für die Menschen ergäben sich – je nach Höhe der Belastung – eben bestimmte Konsequenzen: nichts aus dem eigenen Garten essen, landwirtschaftliche Produkte erst nach strengen Kontrollen zum Verzehr freigeben, im Freien mit Mundschutz arbeiten.
Heute liege der Caesium-Pegel im Boden je nach Region in Deutschland zwischen 1 und 50. Aber eine gesundheitliche Gefahr für den Menschen direkt aus der Caesium-Belastung des Bodens abzuleiten, ist nicht möglich.

Nur ein Jahr jünger als Biblis A
Auch im Bundesamt für Strahlenschutz gibt es keine solche einfache Umrechnungstabelle. Es muss die effektive Dosis ermittelt werden. Dazu muss man zumindest wissen – oder in Modellen Annahmen treffen -, wie viel Strahlung durch Einatmen oder Essen in den Körper gelangt und dort eine Wirkung entfaltet. Die Universität Wien arbeitet derzeit daran, das Störfall-Szenario zu Tihange um genau eine solche Berechnung der für
den Menschen relevanten Dosis zu erweitern.

Der Reaktor in Tihange ist fast 36 Jahre alt. Im europäischen Vergleich ein Fossil. Biblis A ist nur ein Jahr älter. Nach Angaben des Reaktorsicherheitsexperten Hans-Josef Allelein von der RWTH Aachen sind die DruckwasserReaktoren Biblis A und Tihange 1 von vergleichbarer Bauart. Das belgische Kabinett hat beschlossen, alle Meiler des Landes einem Stresstest zu unterziehen. “Die Störanfälligkeit nimmt mit dem Alter zu”, sagt Greenpeace-Belgien-Sprecher Jan Haverkamp in Brüssel. Die Aachener CDU-Europaabgeordnete Sabine Verheyen und ihr
ostbelgischer Kollege Mathieu Grosch sehen eine große Bedrohung der Menschen in der Grenzregion durch ein mögliches Unglück in einem belgischen Kernkraftwerk. Sie fordern eine gründliche Prüfung und eine künftig grenzüberschreitende Koordination von bereits bestehenden
Notfallplänen. Diese Notfallpläne beziehen sich nach Angaben von Greenpeace aber selbst in Tihange lediglich auf einen Radius von zehn Kilometern. Das Innenministerium NRW rechnet im Störfall nicht damit, Katastrophenschutzmaßnahmen zur Rettung von Menschen ergreifen zu müssen. “Dass Menschen akut bedroht werden, ist beim Abstand zu Tihange wohl unwahrscheinlich”, sagt Ministeriumssprecher Jörg
Radermacher.

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